Greven, St. Josef, 28.09.
26. Sonntag i.Jk 2025
Einführung
„Das ist ungerecht!” – Wer sich so beklagt, der erwartet, gehört zu werden. Wir Menschen können nicht anders: Wir wollen Unrecht nicht hinnehmen. Denn als „Kinder des Lichtes“ (Epheser 5,9) zu leben, dazu sind wir geschaffen. Ein Gottsucher in der Bibel sagt es so: „Der Pfad der Gerechten / ist wie das Licht am Morgen, / es wird immer heller bis zum vollen Tag“ (Sprüche 4,18).
Wir wünschen, dass dieser Glanz uns umgibt, uns erfüllt und von uns ausgeht. Dazu wenden wir uns an Gott, verbinden uns mit ihm, der gerecht ist in allem, was er tut (Psalm 145, 17). Seine Treue währt von Geschlecht zu Geschlecht (Psalm 119.90). Wir möchten zu ihm gehören, der Unterdrückten Recht verschafft und Gebeugte aufrichtet (Psalm 146, 7a.)
Predigt (Amos 6,1a.4-7; Psalm 146,7-10; 1 Timotheus 6,11-16; Lukas 16,19-31)
Jesus bietet keine Lösung. Der Abgrund wird nicht überbrückt. Am Ende seiner Geschichte über den reichen Mann und den armen Lazarus bleibt die Kluft bestehen, die diese beiden voneinander trennt. Also kein happy end. Das kann es nicht geben, solange wir Menschen uns damit abfinden, dass die Schere zwischen Armen und Reichen sich immer weiter öffnet.
Aber wie schwierig ist es, Unrecht beizukommen! Oft genug scheint Unrecht ja sogar vorteilhaft zu sein. Listig bietet es sich an als Freund. Ich meine es doch gut mit dir, sagt das Unrecht. Und so paktieren wir mit ihm. Weil wir meinen, dass es nützlich ist, vernünftig. Zu spät stellt sich dann heraus: Nein. Unrecht ist nicht vorteilhaft. Nie.
Unrecht schafft nur Verlierer, Geschädigte, Leidtragende. Es ist erst überwunden, wenn die Opfer aus dem Schatten ihrer Benachteiligung heraustreten können, befreit und glücklich.
Unrecht ist Unheil aber auch für die, die es verschulden. Denn auch sie, die Täter, tun sich Schlimmes an. Auch sie verlieren viel: Die Chance, die Freude, ein gutes Leben zu führen. Ein Mensch, der sich daran gewöhnt, unmenschlich zu leben – der ruiniert, ja tötet sich selbst, zu Lebzeiten. „Was nützt es einem Menschen“, sagt Jesus, „wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sein Leben einbüßt? Um welchen Preis kann ein Mensch sein Leben zurückkaufen?“ (Matthäus 16,26)
Der Abgrund des Unrechts, der Menschen voneinander trennt – in einer jüdisch-chassidischen Geschichte suchen zwei Männer nach einer Erklärung für dieses Rätsel. Da kommt jemand zum Rabbi und fragt: „Ich verstehe es nicht, wie ist es doch möglich! Da ist ein armer Mensch, der ist freundlich und hilfsbereit; und der andere, der reiche, der übersieht ihn völlig.“ Der Rabbi sagt: „Geh mal zum Fenster, schau heraus. Was siehst du?“ „Ich sehe eine Frau mit einem Kind, ich sehe einen Wagen, und da überquert jemand noch den Marktplatz.“ „Gut“, sagt der Rabbi, „dreh dich um und geh zum Spiegel an der Wand! Was siehst du jetzt?“ „Nun, Rabbi, was soll ich sehen? Ich sehe mich selbst.“ “Genau”, sagt der Rabbi, “verstehst du? Das Fenster ist aus Glas, und dasselbe gilt für den Spiegel. Du brauchst aber nur eine dünne Schicht Silber hinter das Glas zu legen – und gleich sieht der Mensch nur noch sich selbst.“
Ja, liebe Gemeinde, jeder Mensch wird als Fenster geboren, durchsichtig, offen. Bis dann früher oder später die Folie sich einstellt, angebracht wird. Was gerade noch Fenster war, Offenheit – das schlägt um, wird Spiegel, Selbstbespiegelung. Aber schön wird der Mensch nicht als Spiegel. Schön wird er und anziehend, wenn er transparent ist wie ein Fenster. Sich auf das Leben einlassen, das Leben an uns arbeiten lassen „bis wir durchscheinend sind“ – dieses Verlangen steckt tief in uns.[1] Nicht Spiegel sein, sondern Fenster. Dann kann das Licht ungehindert kommen und gehen, von draußen hinein und umgekehrt. Der Funke von Gottes Liebe im Herzen will da nicht eingesperrt sein. Frei möchte er aus- und eingehen. Wird es daran gehindert, erlöscht das Licht. „Wenn nun“, sagt Jesus, „wenn das Licht in dir Finsternis ist, wie groß muss dann die Finsternis sein!“ (Matthäus 6,23)
Die einzigartige Ausstrahlung,– das ist das eine Geschenk, das jede, jeder von uns empfangen hat. Das wird noch schöner durch das zweite: Die Ausstrahlung anderer wahrzunehmen, sich an ihr zu freuen. Die geöffnete Pupille mitten im Auge, so klein sie ist, ja winzig: Sie vermag Großes, Großartiges. Wieviel kann sie eintreten lassen: Die Dämmerung und die volle Sonne. So viele Nuancen unzähliger Farbtöne. Den ganzen Reichtum beglückender Formen!
“Lächeln ist Wesen vom Licht” – so beginnt ein Gedicht von Franz Werfel, der von 1890 bis 1945 in Österreich lebte. “Lächeln ist Wesen vom Licht. / Durch die Räume bricht Licht, doch ist es noch nicht, / Nicht die Sonne ist Licht, / Erst im Menschengesicht / Wird das Licht als Lächeln geboren.”[2]
Wie schön wird der Mensch, wie anziehend, wenn er transparent ist! Daran erinnern uns auch die Fenster in unseren Kirchen. Da umgeben uns durchsichtige, durchscheinende Gestalten. Und im Buch des Propheten Daniel ist zu lesen: „Die Verständigen werden strahlen, wie der Himmel strahlt; und die Menschen[3], die viele zum rechten Tun geführt haben, werden immer und ewig wie die Sterne leuchten“ (Daniel 12,3).
Ein lichterfülltes Fenster – das bleibt die Geschichte, die vor zwanzig Jahren geschah. Ihre Leuchtkraft ist nicht untergegangen – obwohl in Gaza, wo sie geschah, in letzter Zeit so viel Entsetzliches geschehen ist und weiter geschieht.
Ahmed war der Sohn palästinensischer Eltern. Im Jahr 2005 ist er als Elfjähriger von israelischen Soldaten erschossen worden. Auf der Straße hatte er mit einem Plastikgewehr gespielt. Als seine Eltern, Abla und Ismail Khatib, auf die Möglichkeit hingewiesen wurden, Organe ihres toten Sohnes Kindern in Israel zu schenken, jüdischen Kindern – da haben sie eingewilligt. Sechs Jungen und Mädchen kam das zugute, ihnen konnte geholfen werden. Ein jüdisches Elternpaar hatte sich zunächst geweigert, für ihre Tochter die Niere eines palästinensischen Kindes anzunehmen, stimmte schließlich aber doch zu. Der Vater von Ahmed hatte gesagt: „Die Botschaft meines Sohnes ist auch eine Botschaft des Lebens. Aus dem Tod entsteht neues Leben“. Die Organspenden sollten ein „Zeichen der Liebe für alle Kinder dieser Welt“ sein.
Jesus hat in demselben Land gelebt wie dieses Kind, Ahmed, und wurde dort ebenfalls umgebracht. Über seinen Tod hinaus lebt er unter uns als Zeichen der Liebe für alle – in seinem Verhalten, in seinen Taten, in Worten wie diesem:
“Selig, die keine Gewalt anwenden, denn sie werden das Land erben. Selig, die Frieden stiften, denn sie werden Söhne Gottes genannt werden“ (Matthäus 5,5.9).
Zum Friedensgruß
Meister Eckhart sagt: „Soweit du im Frieden bist, soweit bist du in Gott“. –
In Gott sein – wenn dieser Wunsch uns bestimmt, gehen wir auf dem Pfad der Gerechten. Er „ist wie das Licht am Morgen, wird immer heller bis zum vollen Tag“ (Sprüche 4,18).
Heinz-Georg Surmund
[1] ‘hij die de weg van het woord weet, … hij speelt met de elementen / en de elementen spelen met hem / … hij danst en verdwijnt en / zingt totdat wij doorschijnend zijn’: Lucebert, dit is mogelijk)
[2] Franz Werfel, Lächeln Atmen Schreiten
[3] Im Buch Daniel steht nicht „Menschen“, sondern „Männer“.